Liebe Amina, für wie modern hältst Du die fünf Figuren, die uns in „Stella“ begegnen?
Ich würde fast sagen, sie sind Gefangene des 19. Jahrhunderts, das bis heute wirkt. Es wird uns in Filmen, Büchern etc. bis heute verkauft, das Märchen von der großen Liebe und dem Einen und dem Happy End. Doch im Zeitalter des Neoliberalismus ist das doppelt verheerend, denn dann bist du selbst schuld, wenn du nicht glücklich bist. Da ist Fernando, der Zweifler und Suchende, der mehr will, nie zufrieden ist, immer alles neu, alles besser, alles leidenschaftlicher…der Reisende, im Inneren zutiefst Einsame, der sich nicht wirklich hingeben und einlassen mag, weil an der nächsten Ecke schon das nächste Glück warten könnte. Fernando macht das, was wir heute eigentlich normal finden, er eröffnet „Familienfilialen“. Ein Serienmonogamist. Fünf Jahre mit der einen, Kind und Familie, dann zieht er weiter und macht mit einer anderen Frau die nächste Familie auf …bis er wieder weiter zieht. Auch sein Schuldbewusstsein den Frauen gegenüber, von denen er meint, er liebt sie, ändert nichts an seinem Verhalten. Er dreht sich letztlich, egal mit wem er ist, nur um sich selbst. Sind die Gründe dafür in der Konsumgesellschaft und ihrer Neigung zum Narzissmus zu suchen? In den Gesetzen der Biologie? Oder ganz einfach daran, dass Fernando noch nicht auf die richtige Seite gefallen ist?
So wie die Frauenfiguren, die mehr das Bild der Liebe lieben als den Mann. Die verlassene Geliebte, Stella, und die verlassene Ehefrau, Cäcilie, lieben es mehr, unglücklich zu sein und dramatisch das Leben zu verwarten, als selbst aktiv zu werden. Sie sind Frauen-Karikaturen, die sich nur über den Mann definieren, nur über ihn sprechen. Dieses Stück würde im Bechdeltest durchfallen, obwohl hierin – fast nur – Frauenrollen zu finden sind. Der Bechdeltest wurde von Feministinnen entwickelt, um zu prüfen, wie selbstständig Frauen in Filmen dargestellt werden. Haben sie überhaupt einen Namen? Sprechen sie miteinander? Sprechen sie über etwas anderes als über Männer? Erst wenn diese drei Fragen mit Ja beantwortet werden, besteht der Film den Test. Viele Hollywoodfilme fallen da durch und so auch Stella von Goethe. Lediglich Fernandos und Cäcilies Tochter Lucie bricht aus der „Frauenrolle“ aus. Sie stellt sich vor ein Leben ohne Männer zu leben. Schließlich wurde sie ohne einen Vater großgezogen, sie kennt das Leben unter Frauen und auf der Reise, und weiß wie man sich durchbringen muss. Sie hat Mut und Hoffnung auf ein anderes Leben, als das ihrer Mutter, die nur in ihrer Erinnerung an die gute alte Zeit lebt. Sie hält ein Plädoyer für eine von den Zwängen der Konsumgesellschaft befreite Liebe. Auf diese Weise ist das Stück auch ein Zusammentreffen verschiedener Generationen und Möglichkeitsmodelle. Neben der Mutter und Tochter ist da auch noch die älteste Figur, die alles schon hinter sich gelassen hat, die Wirtin, die von sich sagt, sie ist ohne jegliche Leidenschaft. Und dabei glücklich.
Was hat Goethes „Stella“ mit uns heute zu tun?
Liebesmodelle, Familienmodelle, Patchwork-Familien – wie lässt sich Liebe und Familie heute leben? Das sind Fragen, die schon Goethe beschäftigt haben und uns noch heute beschäftigen. Gerade im Zeitalter, wo wir die Stereotype aufbrechen wollen und darüber nachdenken, was das ist „typisch weiblich“ und „typisch männlich“? Was muss eine Frau heute alles können? Was muss der Mann können? Und kann das am Ende die Frau nicht sogar besser als der Mann? Ist die Frau der bessere Mann? Oder sind wir gefangen in den „alten“ Vorstellungen, weil sie eben nicht alt sind sondern in uns? Was sind Prägungen? Was Geschlecht? Verliebte Verhaltensweisen im Zeitalter des Spätkapitalismus zu analysieren und sie zu hinterfragen: Wie können die Impulse des Herzens gemeistert werden? Was tun bei Liebeskummer? Warum enden Liebesgeschichten im Allgemeinen schlecht? Und warum flattern manche Leute unentwegt, ohne jemals zu landen? Das sind brandaktuelle Fragen, auf die wir keine Antworten haben, aber wir zeigen wie schrecklich es sein kann, gefangen zu sein in der Karikatur von Frau-Sein und Mann-Sein, wie wichtig Bewegung und Eigenverantwortung ist.
Goethe hat für seine „Stella“ 1775 ein veritables „Happy End“ geschrieben – Stella, Cäcilie und Fernando leben zukünftig zu dritt. Später, 1805, hat Goethe nach großem Protest dem Stück ein anderes Ende gegeben – Stella und Fernando begehen Selbstmord, eine Tragödie. Wie wirst Du mit diesen beiden Möglichkeiten der Endungen umgehen?
Bei uns wird sich die Tochter ihr Wunschende bauen. Lucie wünscht sich ein Ende und löst die harten Liebesverklammerungen der drei unglücklich Liebenden, die einander verlieren und wiederfinden, wiederfinden und verlieren. Mehr möchte ich nicht darüber verraten.
Zwei Menschen gleichzeitig zu lieben, für Goethe ein großes Thema, ist auch für uns heute, die wir quasi permanent in der Untersuchung und Betrachtung zeitgenössischer Lebens- und Beziehungsmodelle stecken, weiterhin interessant. Oder?
Ich glaube Liebe ist immer ein Thema, egal zu welcher Jahreszeit und in welchem Jahrhundert. Und die sogenannte „offene Beziehung“ ist bis heute umstritten und auf jeden Fall spannend.
War Goethe damals mit seiner Setzung der „Liebe zu dritt“ ganz schön weit vorne im Kontext seiner Zeit gesehen?
Ich glaube er war ein Mann, der alles gleichzeitig wollte, denn seinen Frauenfiguren hat er nicht so viel zugestanden. Durch diesen männlichen Blick auf diese Verflechtungen, die Behauptung, alle wollen Fernando und somit ist alles unlösbar, stellt sich für mich eher Komik her, als fortschrittlicher Geist. Allerdings war die bürgerliche Moral bös gebeutelt mit seinem Happy End und dem Leben zu dritt.
Wir sprachen im „Stella“-Zusammenhang mal von Projektionsflächen – wie sehr sehen die Figuren einander wirklich (an) und erkennen einander wirklich, und wie sehr projizieren sie eigene Wünsche und Bedürfnisse in den anderen hinein, machen sich auch ein Ideal-Bild des anderen?
Das ist wirklich interessant, dass sie am Ende immer nur sich sehen und nie den/die andere. Dadurch sind sie vielleicht verschieden, aber irgendwie auch ziemlich ähnlich. Einsame, alle miteinander. Unfähig aus ihrer Rolle rauszukommen. Obwohl die Ehefrau immerhin einen konstruktiven Vorschlag macht, wie man rauskommen könnte aus der Verstrickung und Liebesumklammerung.
Wie unterscheiden sich Deiner Ansicht nach die Frauenfiguren in der zeitgenössischen Dramatik von denen aus der Zeit zum Beispiel Goethes?
Was komplexe Frauenrollen betrifft, ist es ja für unsere Zuschauerinnen eh dünn und für die Jugend gibt‘s gar nicht mal so konstruktive Vorbilder. Denke man in den Klassikern an Gretchen, oder Amalia, Luise Müllerin, alles unglücklich Liebende, die warten und sich am Ende irgendwie umbringen.
Auch in den moderneren Stücken, Nora oder Lulu, sind Frauen Ehefrauen und um Männer herum organisiert. Sie haben kaum ein Thema, das sich vom Mann löst. Selbst in heutigen Stücken findet sich wenig. Wobei es heute ja fast so ist, dass es eh nur „Textflächen“ sind und alle alles sprechen. Doch den Weg von Mädchen- zu Frau-sein, vom Karriere- und vom Berufsleben neben dem Job als Mutter oder der Rolle der Geliebten, also ein gesamtes Bild einer Frau, wird so gut wie nie thematisiert. Als wäre das Leben einer Frau zu banal, um es losgelöst von der Liebe oder der Sehnsucht nach der Liebe und dem Mann zu beschreiben. Exemplarisch sind hier die Frauenfiguren bei Goethes Stella. Lediglich die Tochter will ausbrechen, landet aber in ihrer Sehnsucht nach der heilen Familie doch wieder beim ewigen Bild von Mutter Vater Kind. Egal, wie modern wir sind, es scheint, das Ideal sitzt fest. Die Frau allein genügt nicht, ist ungenügend. Wartet auf Ergänzung. Den Mann. Und der Mann? Der ist sich selbst genug, mit seiner Sehnsucht, seiner Unruhe, er ist ein Reisender und die Reise selbst ist das Ziel. Niemals das ankommen. Das ist nur der lästige Zwischenschritt, um wieder loszugehen, wieder eine Reise zu beginnen. Immer unterwegs die lonesome Cowboys. Sie brauchen nur ein Pferd, keine Frau. An die denken sie lieber, als dass sie sie sehen. Ist das heut so anders?
Worauf wirst du Dein besonderes Augenmerk richten in der Inszenierung?
Dass es uns heut berührt. Dass es so gesprochen wird – obwohl es Goethe ist – als würde es eben gerade gedacht werden. Das ist harte Arbeit: Den Theaterton zu vertreiben und auf das zu achten, was wir heuten denken und fühlen.
Und ich richte das Augenmerk auf Stereotype und die neoliberalen Vorstellungen von Glück und Liebe, die uns so einsam machen. Alle wollen gerettet werden, und so gehen alle unter. Das ist tragisch und komisch. Für mich ist diese übersteigerte Selbstsucht und Liebessehnsucht eben auch extrem unterhaltsam und das würde ich gern herausarbeiten, denn unsere Verirrungen sind für uns vielleicht schlimm in dem Moment, aber für den, der zuschaut, möglicherweise sehr erfrischend, erkennt er sich doch selbst. Das ist dann also mein Kernanliegen, dass der Zuschauer immer wieder die Möglichkeit hat, sich in jeder Figur selbst zu erkennen und darüber zu schmunzeln oder ergriffen zu sein. Denn für mich ist Theater immer dann spannend, wenn es den Zuschauer heute berührt und angeht. In meiner Bearbeitung des Stückes habe ich auch darauf Wert gelegt, einerseits die Sprache von Goethe zu erhalten und eben auch den Bogen ins Heute zu spannen mit modernen Texten und Ansichten. Alles sollte so klingen, als würde es mal eben ein Nachbar sagen.
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